Deutschland steht unter Schock – zum ersten Mal in der Geschichte ist ein Kanzlerkandidat im ersten Wahlgang gescheitert. CDU-Chef Friedrich Merz verpasste die nötige absolute Mehrheit deutlich. Der Eichstätter Politikwissenschaftler Klaus Stüwe geht davon aus, dass Merz jetzt auch an die staatsbürgerliche Verantwortung der Fraktionen appellieren wird
Keiner darf jetzt in dieser schwierigen Situation mit all den Krisen, die wir haben, riskieren, dass wir in eine Staatskrise geraten, an diese Verantwortung werden Merz, andere Beteiligte und vielleicht sogar der Bundespräsident appellieren, so Stüwe
Noch steht nicht fest, wann der Bundestag einen neuen Versuch zur Kanzlerwahl starten wird.
Laut Grundgesetz hat er zwei Wochen Zeit dafür.
Hier das komplette Statement von Professor Stüwe zur gescheiterten Bundeskanzlerwahl
Der designierte Kanzler Friedrich Merz ist im ersten Wahlgang gescheitert – wie kann so etwas passieren?
KLAUS STÜWE: Sowas darf eigentlich nicht passieren nach den langen Vorbereitungen. Wenn die Koalitionsverhandlungen abgeschlossen sind und der Koalitionsvertrag unterschrieben wurde, dann ist es immer nur Formsache gewesen in den vergangenen 75 Jahren. Dass es diesmal nicht geklappt hat, ist wahrscheinlich ein Zusammentreffen von verschiedenen Faktoren. Da gibt es Unzufriedene, die bei der Regierungsbildung nicht berücksichtigt wurden, keine Posten bekommen haben, da gibt es alte Rechnungen, weil man Merz sowieso nicht leiden kann – und zwar bei beiden beteiligten Fraktionen.
Die große Überraschung aller Beteiligten zeigt, dass es sich um ein ungewöhnliches Ereignis handelt. Gab es so ein Scheitern zuvor schon einmal?
KLAUS STÜWE: Nein, das gab es bislang noch nie. Es gab knappe Entscheidungen wie 1949 bei Adenauer, der nur mit einer Stimme Mehrheit gewählt wurde. Oder bei Helmut Kohl, der auch mal nur mit einer Stimme mehr gewählt wurde. Bei Schröder waren es mal drei Stimmen. Aber dass ein Kanzler im ersten Wahlgang gescheitert ist, das gab es noch nie. Ein historischer Tag.
Wie geht es nun weiter?
KLAUS STÜWE: Das Grundgesetz sieht dafür klare Regeln vor. In Artikel 63 steht, dass wenn ein Vorgeschlagener im ersten Wahlgang scheitert, so wie jetzt passiert, dann hat der Deutsche Bundestag insgesamt 14 Tage lang Zeit, einen Bundeskanzler zu wählen, auch wieder mit absoluter Mehrheit. Das Heft liegt jetzt also beim Deutschen Bundestag. Ich gehe davon aus, dass Friedrich Merz nochmal antritt und es in einem nächsten Wahlgang versuchen wird.
Was wird in der Zeit bis dahin passieren?
KLAUS STÜWE: Vielleicht macht Merz Zugeständnisse, aber er wird vor allen Dingen an die staatsbürgerliche Verantwortung seiner Fraktion, aber auch der SPD-Fraktion appellieren. Und ich meine, das ist auch dringend notwendig, sowas hat es noch nie gegeben. Keiner darf jetzt in dieser schwierigen Situation mit all den Krisen, die wir haben, riskieren, dass wir in eine Staatskrise geraten. An diese Verantwortung wird Merz und werden wahrscheinlich auch andere Beteiligte, vielleicht sogar der Bundespräsident, appellieren.